Sozialer Aspekt einer freien Gruppenimprovisation lässt sich überraschenderweise auch per Videokonferenz erleben.
Am Dienstag vor Ostern unterrichtete ich an der HfMDK 6 Studierende für das Lehramt Musik an Grundschulen im Fach „Gruppenmusizieren“. Thema der Sitzung war Improvisation mit Grundschulklassen. Das Veranstaltungsformat: Videokonferenz.
Nach meinem ausführlichen Vortrag über den üblichen Ablauf einer „freien“ Improvisation mit Grundschulklassen war es an der Zeit, eine Gruppenimprovisation nach der vorgestellten Aufgabenstellung durchzuführen. Doch wie?
Die Aufgabenstellung
Sobald sich eine aufmerksame Stille im Raum eingestellt hat, gebe ich ein leises Startsignal. Nun beginnen alle Spieler*innen in Gedanken unhörbar bis 10 zu zählen. Dies geschieht im eigenen Tempo. Dieser Zwischenschritt erhöht die Aufmerksamkeit aller und hilft dabei, einen ästhetischen Raum entstehen zu lassen und diesen gemeinsam zu betreten. Das Hören verändert sich dadurch erfahrungsgemäß – es wird leichter, Geräusche als Klänge wahrzunehmen, die über eine ästhetische Dimension verfügen und als konstituierendes Element der Musik erlebt werden.
Nach dem Zählen ist die Musik „eröffnet“. Für den Verlauf des Musikstücks gibt es eine dynamische Vorgabe: Es beginnt leise, wird lauter, wieder leiser und endet dann, ohne dass jemand ein Zeichen gibt oder anderweitig dominant einschreitet. Während des gesamten Prozesses wird nicht gesprochen.
Stille – Start – 1 … 10 p < f > p Ende
Erfahrungsgemäß fällt es Kindern eher schwer, als Gruppe ein gemeinsames Ende zu finden, Erwachsenen hingegen fällt es oft schwerer, im Mittelteil eine gewisse Lautstärke überhaupt zu erreichen.
Die Durchführung unter kontaktlosen Corona-Bedingungen
Wir nahmen alle unsere Headsets ab und aktivierten die computereigenen Mikrophone, um möglichst viele „Nebengeräusche“ zu ermöglichen, da diese als Klangmaterial der Improvisation fungierten. Da unsere Kameras alle auf unsere Gesichter gerichtet waren, konnten wir in der Regel die Geräuschproduktion der anderen nicht sehen.
Interessant war, dass ein ganz wesentlicher Aspekt in der Reflexion ganz genau so auftauchte, wie er es üblicherweise tut, wenn ich diese Impro-Formate erstmals mit Gruppen durchführe, bei Erwachsenen und Kindern gleichermaßen: Die Spieler*innen beschrieben die eigene Unsicherheit darüber, ob sich das Stück noch im aufbauenden Crescendo befindet, oder ob es seinen Höhepunkt bereits hinter sich hat und nun auf das leise Ende zusteuert.
Aus meiner Sicht bringt diese Unsicherheit einen ganz wesentlichen sozialen Aspekt von ‚freier’ Gruppenimprovisation auf den Punkt:
Beim Spielen bin ich permanent gefordert, das Gehörte zu interpretieren in Bezug auf die Aufgabenstellung (beziehungsweise in Bezug auf die eigene Hörerwartung, sofern keine Spielanweisung vorliegt). Mein eigenes Spiel, meine Wirkung auf die anderen analysiere ich parallel dazu und treffe blitzschnell Entscheidungen, wie ich mich spielerisch in Bezug auf die von mir interpretierte Situation einstelle, auf sie reagiere, mich positioniere.
Dabei ist meine Einschätzung der Gesamtsituation ein fragiles Gebilde, das jederzeit wieder in sich zusammenstürzen kann.
Wenn ich beispielsweise eben noch zu der Einschätzung kam, das Stück nähere sich nun langsam dem Ende, und dann plötzlich zwei Mitspieler*innen mit lauten, sich steigernden Aktionen auffallen – dann bin ich gefragt, meine eben erst erstellte Hypothese zu überprüfen, gegebenenfalls zu verwerfen – und mich spielerisch entsprechend zu verhalten.
Das schnelle Wechselspiel aus Wahrnehmung, Interpretation und Entscheidung spiegelt die inneren Prozesse wider, die die Aufmerksamkeit blitzschnell zwischen Innen und Außen hin- und herwandern lassen.
Anders ausgedrückt: Ich und die anderen. Es findet ein permanenter Abgleich statt.
Obwohl die „Nebenräusche-Improvisation“ per Videokonferenz mich mit ihren eingeschränkten klanglichen Möglichkeiten künstlerisch nicht überzeugen konnte, habe ich mich sehr gefreut, dass es offenbar gelungen ist, die soziale Komponente einer solchen Gruppenimprovisation für die Studierenden zumindest ansatzweise erfahrbar zu machen.